Zwischen Schock und Wachstum -die Veränderungskurve der KI-Adaption
- Kerstin Eiselt

- 12. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Nov.
Kaum ein technologischer Wandel hat die Gesellschaft so schnell, so tief berührt wie die Einführung generativer KI. Innerhalb weniger Monate hat sich das, was einst als ferne Zukunftsvision, als Sci-fi galt, in unseren Alltag geschoben: KI schreibt, gestaltet, analysiert und trifft Entscheidungen.
Doch während sich Technologie in atemberaubendem Tempo weiterentwickelt, bleibt die menschliche Seite oft einen Schritt zurück. Denn wir reagieren nicht linear, sondern emotional.
Genau hier hilft uns die Veränderungskurve nach Elisabeth Kübler-Ross – ursprünglich aus der Trauerforschung, heute eines der wirksamsten Modelle, um die Dynamik von Veränderungsprozessen zu verstehen.
Wenn wir die sechs Phasen dieser Kurve auf die Adaption von Künstlicher Intelligenz anwenden, entsteht ein klares Bild: ein kollektiver Lernprozess, der zwischen Angst, Faszination und Wachstum pendelt.

1. Schock / Überraschung
„Was? Maschinen können Texte schreiben, Bilder malen und sogar Entscheidungen treffen?“
Diese Phase begann etwa 2022-2023, als ChatGPT, Midjourney und andere Tools den Mainstream erreichten. Unterstützt durch eine starke mediale Präsentation, reichten die Reaktionen von Begeisterung bis Verunsicherung. Menschen staunten, belächelten, testeten – und fragten sich zugleich: „Was bedeutet das für mich?“
Der Schock ist immer der erste Schritt. Er zeigt, dass eine Veränderung emotional ankommt. Das ist der Moment, in dem uns klar wird: Etwas Fundamentales verändert sich – nicht nur technologisch, sondern gesellschaftlich und persönlich.
2. Verleugnung
„Das ist nur ein Hype – KI kann keine echten Menschen ersetzen.“
Nach der ersten Überraschung folgt oft die Abwehr. Viele Menschen und Organisationen unterschätzen in dieser Phase die Tragweite der Veränderung. Sie beruhigen sich mit Sätzen wie: „Das betrifft mich nicht.“ oder „Das wird bald reguliert werden.“
Diese Phase ist sehr menschlich und wird gestützt durch die Status Quo Verzerrung. Sie schützt uns vor Überforderung. Doch sie kann gefährlich werden, wenn sie zu lange andauert. Denn während wir noch diskutieren oder uns weigern, Veränderung anzunehmen, verändert KI bereits unsere Arbeitsweisen, Informationsflüsse und Entscheidungsprozesse.
3. Widerstand / Frustration / Angst
„KI bedroht meinen Job, meine Identität, die Gesellschaft.“
Jetzt wird es emotional: Angst, Wut und Kontrollverlust prägen diese Phase. Künstler fürchten um Kreativität, Lehrer um Integrität, Journalisten um Wahrheit. Dieser Widerstand ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck eines kollektiven Identitätskonflikts: Wir müssen neu definieren, was menschlich bedeutet, wenn Maschinen denken und gestalten lernen.
Wer Menschen in dieser Phase begleiten will – ob als Führungskraft, Coach oder Organisation – braucht Empathie. Kein Faktenwissen oder Technologie-Training ersetzt emotionale Führung.
Zwischen Widerstand und Neugier:
Das Modell komplexer Veränderung nach Peter Kruse
Der deutsche Psychologe und Organisationsberater Prof. Peter Kruse hat in seinem Modell komplexer Veränderung eindrücklich beschrieben, was in der kritischen Mitte eines Transformationsprozesses passiert.

Er spricht von einem Punkt der maximalen Instabilität – dem Zustand, in dem alte Strukturen bereits bröckeln, neue aber noch nicht stabil sind. In dieser Phase entscheidet sich, ob ein System nach vorne kippt – in Richtung Lernen und Innovation – oder in Angst und Widerstand zurückfällt.
Kruse unterscheidet dabei zwei entscheidende Kräfte:
Schubkraft (Push): entsteht aus dem Druck der Notwendigkeit – z. B. Wettbewerbsdruck, technologische Disruption oder gesellschaftliche Veränderung.
Zugkraft (Pull): entsteht aus der Attraktivität des Neuen – einer Vision, einem Sinn, einem erkennbaren Mehrwert.
Nur wenn die Zugkraft stärker und emotional anziehend genug ist, kann sie Menschen über den Punkt der Instabilität hinwegziehen. Fehlt diese Attraktivität, entsteht ein gefährlicher Loop: ein Kreislauf zwischen Neugier und Frustration. Menschen probieren etwas aus, stoßen auf Unsicherheit – und fallen zurück in Skepsis oder Ablehnung.
Gerade in der Adaption von KI ist diese Erkenntnis zentral: Wer Veränderung gestalten will, muss nicht nur erklären, warum sie notwendig ist, sondern vor allem zeigen, warum sie lohnend ist. Die Zukunft zieht nicht durch Angst, sondern durch Bedeutung.
4. Neugier / Erkunden / Experimentieren
„Vielleicht kann ich KI nutzen, um meine Arbeit zu erleichtern.“
Nach dem “Tal der Tränen” folgt der Wendepunkt: die Neugier. Erste positive Erfahrungen öffnen den Blick. Mitarbeiter testen KI-Tools, Unternehmen starten Pilotprojekte, Privatpersonen experimentieren mit ChatGPT für E-Mails, Ideen oder Analysen.
Das ist der Moment, in dem aus Angst langsam Selbstwirksamkeit entsteht. Menschen erkennen: Ich kann diese Veränderung mitgestalten.
Coaching, Weiterbildung und Austausch sind hier entscheidend – sie verwandeln Unsicherheit in Lernfreude.
5. Akzeptanz / Lernen
„Ich sehe, wie das funktioniert, und wo es mir wirklich hilft.“
In dieser Phase wird KI zu einem Werkzeug statt einer Bedrohung. Menschen beginnt, die Technologie zu verstehen und sie gezielt einzusetzen – in Beruf, Bildung und Kreativprozessen. Das Vertrauen wächst durch positive Erfahrungen: Effizienz, Inspiration, Entlastung.
Organisationen, die hier angekommen sind, integrieren KI in ihre Strategie und investieren in Kompetenzaufbau. Menschen erleben ein neues Gefühl von Kontrolle – nicht, weil sie die Technologie beherrschen, sondern weil sie sie bewusst einsetzen.
6. Integration / Wachstum
„Ich bin erfolgreicher, kreativer oder effizienter mit KI – das gehört zu meinem Leben.“
Die letzte Phase beschreibt den Beginn einer neuen Normalität. KI ist nun Teil des Alltags – unspektakulär, selbstverständlich, eingebettet in Workflows und Denkprozesse.
Berufe verändern sich, Rollen entwickeln sich weiter, und eine neue Qualität von Zusammenarbeit entsteht: Mensch und Maschine als Partner. Hier entfaltet sich das eigentliche Potenzial von KI – nicht als Ersatz, sondern als Erweiterung unserer Fähigkeiten.
Fazit: Veränderung ist kein Sprint – sondern ein emotionaler Prozess
Die Adaption von KI ist kein rein technischer Wandel, sondern ein kollektiver Bewusstseinsprozess. Wir müssen nicht nur lernen, wie KI funktioniert, sondern auch verstehen, wie wir mit der Veränderung umgehen. Aktuell befinden sich viele Menschen zwischen Phase 3 (Widerstand) und Phase 4 (Neugier). Einige sind bereits in der Akzeptanz, andere stecken noch im emotionalen Tal. Das Entscheidende ist: Niemand bleibt stehen.
Mit jedem Gespräch, jeder Erfahrung und jeder offenen Auseinandersetzung bewegen wir uns weiter – Schritt für Schritt – von Schock zu Wachstum.
💬 Denkanstoß
Die Frage ist nicht mehr, ob KI unseren Alltag verändert, sondern wie bewusst wir diesen Wandel gestalten. Je stärker die Vision auf der anderen Seite der Kurve zieht, desto nachhaltiger wird unsere Bewegung dorthin.
Quellen:
1Kübler-Ross, E. (1969). On Death and Dying: What the Dying Have to Teach Doctors, Nurses, Clergy, and Their Own Families. New York: The Macmillan Company.
2Kruse, P. (2004): Next Practice. Erfolgreiches Management von Instabilität. Veränderung durch Vernetzung. Offenbach: Gabal Verlag, S. 57.

Kommentare